Veranstaltung: | Ordentliche Landesdelegiertenkonferenz der Jusos Sachsen 2022 |
---|---|
Tagesordnungspunkt: | 6.1 Anträge |
Status: | Beschluss |
Beschluss durch: | Jusos Chemnitz |
Basierend auf: | A-03: Mehr Psychotherapieplätze! |
Mehr Psychotherapieplätze!
Beschlusstext
Die Jusos Sachsen mögen beschließen und über den Juso-Bundeskongress, den
Landesparteitag derSPD Sachsen und den SPD-Bundesparteitag an die SPD-Fraktionen
im Sächsischen Landtag und Deutschen Bundestag weiterleiten:
Die psychotherapeutische Versorgung in Deutschland ist mangelhaft.
Zur Zeit dauert es nach Angaben des Vorsitzenden der Ostdeutschen
Psychotherapeutenkammer (OPK), Gregor Peikert, in Sachsen ca. 6,5 Monate bis zum
Beginn einer psychotherapeutischen Behandlung1. Zahlreiche Gesetzesinitiativen
der letzten Jahre – nicht zuletzt die Psychotherapiestrukturreform – hatten zum
Ziel, die psychotherapeutische Versorgung zu verbessern. Kürzlich
veröffentlichte Daten aus psychotherapeutischen Praxen in 7 deutschen
Bundesländern belegen aber, dass dieses Ziel nicht erreicht wurde: Die neu
eingeführten Instrumente haben nicht zu einem schnelleren Therapiebeginn für die
Betroffenen psychischer Störungen geführt2.
Die Bedarfsplanung ignoriert die Bedürfnisse der Betroffenen
Das verwundert nicht. Denn wenn ein genauer Blick auf die fachliche
Bedarfsplanung und die zugrundeliegenden Richtlinien gerichtet wird, ist
erkennbar, dass der wichtigste Faktor gar keine Berücksichtigung findet, nämlich
wie viele Menschen eigentlich Psychotherapie benötigen.
Ungefähr 31% der Bevölkerung in Deutschland erfüllen die Kriterien für eine
psychische Störung, wenn die Zahlen über einen Zeitraum von 12 Monaten erfasst
werden3. Gleichzeitig schaffen es nur 1% der Bevölkerung aus eigener Initiative
eine Psychotherapie zu beginnen, obwohl durch entsprechende Beratung und
Unterstützung das Potenzial mind. 10fach höher läge3. Es leuchtet ein, dass die
Autor*innen des Übersichtsartikels bereits 2013 zu dem Schluss kommen, dass
„ärztliche oder psychologische Behandlungsangebote […] dem ‚wahren‘ Bedarf weit
hinterherhinken“3. Fast 10 Jahre später hat sich an dieser Ausgangslage nichts
geändert, werden die langen Wartezeiten betrachtet. Die
Bundespsychotherapeutenkammer schätzt, dass mindestens 7000 Kassensitze für eine
adäquate Versorgung fehlen4.
Wie wird die Versorgungslage offiziell bewertet?
Ein paar Beispiele aus Sachsen: In den Städten Chemnitz und Dresden versorgen
psychologische und ärztliche Psychotherapeut*innen ca. 10-11% der Bevölkerung,
setzt man die abgerechneten Fälle im Jahr 2019 mit einzelnen Personen gleich. Im
Raum Riesa-Großenhain oder dem Landkreis Sächsische Schweiz sind es 6-7%5. Nach
offiziellen Angaben ist Sachsen damit überall ausreichend versorgt. Allerdings
erhalten diese Menschen nicht in jedem Fall Psychotherapie, sondern häufig
lediglich eine beliebige Form von professioneller Unterstützung
(interventionelle Kurzgespräche, Psychopharmaka, etc.). Diese Schlussfolgerung
ergibt sich nämlich zwangsläufig aus den von der Kassenärztlichen Vereinigung
Sachsen (KVS) veröffentlichten Zahlen: Psychologische Psychotherapeut*innen
erbringen ihre Dienstleistung zu nahezu 100% durch Einzel- und Gruppentherapien
und behandeln durchschnittlich 61,8 Patient:innen pro Jahr6. Nach Berechnung der
KVS sollen sie aber ca. 300 Personen pro Jahr behandelt haben, weil dieser
Durchschnittswert allen zugeschrieben wird, die psychotherapeutische
Dienstleistungen im weiteren Sinn anbieten, von Hausärzt*innen mit
Zusatzbezeichnung Psychotherapie, Fachärzt*innen für
Psychiatrie/Psychotherapie/Psychosomatik und eben psychologischen
Psychotherapeut*innen. Die überwiegende Mehrzahl der Menschen, die offiziell
psychotherapeutisch versorgt werden, erhält folglich keine Psychotherapie im
eigentlichen Sinn.
Eine Reform des G-BA ist unumgänglich, nur so ändert sich die Bedarfsplanung
Die Kassenärztliche Vereinigung Sachsen sieht auf der Grundlage der geltenden
Bedarfsplanungsrichtlinien also keine Hinweise für eine Unterversorgung, obwohl
die Wirklichkeit anders aussieht. Dieser Systemfehler muss behoben werden! Zur
Erinnerung: deutschlandweit fehlen geschätzt 7000 psychotherapeutische
Kassensitze. Bedarfsplanungen werden auf Länderebene durchgeführt, nach
Richtlinien, die bundesweit durch den Gemeinsamen Bundesausschuss festgelegt
wurden, und anschließend gemeinsam durch gesetzliche Krankenversicherungen und
die jeweiligen Kassenärztlichen Vereinigungen beschlossen. Patient*innen und
fachspezifische Expert*innen haben keine Mitbestimmungsrechte; diejenigen also,
die direkt an Psychotherapie beteiligt sind, werden vollständig ignoriert und
damit auch der legitime Anspruch eine Behandlung nach aktuellem Stand
wissenschaftlicher Erkenntnisse und Leitlinien zu erhalten. Eine bessere
Versorgung kann also nur über eine Änderung der Arbeitsweise und Zusammensetzung
von Landesausschüssen und Gemeinsamem Bundesausschuss sinnvoll erfolgen.
Wir fordern deswegen
- die Beteiligung von Patient*innen und fachspezifischen Expert*innen als
stimmberechtigte Mitglieder (jeweils 25% der Sitze),
- die Trennung der Bedarfsplanung von ärztlichen und psychologischen
Psychotherapeut*innen,
- eine Orientierung der Bedarfsplanung an wissenschaftlichen Studien mit
Ergebnissen zur Häufigkeit einzelner psychischer Störungen,
- dass aktuelle Leitlinien zur Behandlung von psychischen Störungen durch
die Bedarfsplanung mit mehr psychologisch-psychotherapeutischen
Kassensitzen endlich umsetzbar gemacht werden.
Denn die Studienlage ist eindeutig: Menschen profitieren dauerhaft von
Psychotherapie. Mehr Menschen brauchen Psychotherapie – und das geht nur mit
mehr Psychotherapeut*innen!
Referenzen:
[1] https://www.dnn.de/Region/Mitteldeutschland/Patienten-in-Sachsen-warten-ein-
halbes-Jahr-auf-eine-Psychotherapie
[2] Singer, S., Maier, L., Paserat, A. et al. Wartezeiten auf einen
Psychotherapieplatz vor und nach der Psychotherapiestrukturreform.
Psychotherapeut 67, 176–184 (2022). https://doi.org/10.1007/s00278-021-00551-0
[3] Jacobi, F., Kessler-Scheil, S. Epidemiologie psychischer Störungen.
Psychotherapeut 58, 191–206 (2013). https://doi.org/10.1007/s00278-013-0962-z
[4] https://www.spiegel.de/gesundheit/diagnose/psychotherapie-plaetze-kranke-
zweifeln-oft-ob-ihnen-hilfe-zusteht-a-1259713.html
[5] Kassenärztliche Vereinigung Sachsen, Bedarfsplan 2020, https://www.kvs-
sachsen.de/fileadmin/data/kvs/img/Mitglieder/Arbeiten_als_Arzt/Bedarfsplanung/20-
0131_Bedarfsplan_2020_Stand_20200131.pdf
[6] Kassenärztliche Bundesvereinigung, Quartal 4/2019,
https://gesundheitsdaten.kbv.de/cms/html/17023.php
Begründung
Fast 18 Millionen Erwachsene in Deutschland sind innerhalb eines Jahres von einer psychischen Erkrankung betroffen. Leider nehmen nur ca. 19% der Betroffenen Kontakt zu „Leistungserbringern“ auf [2].
Durch die fehlenden Kassensitze bei Psychotherapeut:innen, sind viele gesetzlich Versicherte Menschen nicht in der Lage einen Therapieplatz zu erhalten. Kassensitz bedeutet, dass ein:e Therapeut:in gesetzlich Krankenversicherte behandeln darf und über die jeweilige Krankenkasse seine Leistungen abrechnet [3]. Es ist zwar möglich, sich die Kosten im Nachgang wieder zurückzuholen, sicher ist dies aber längst nicht. Zudem ist auch ein Vorschuss der Kosten extrem teuer. So betragen die Kosten für eine Theapiesitzung für Patient:innen laut Gebürenordnung für Psychotherapeut:innen 118,04€ [4]. Bei mindestens 10 Sitzungen, eher mehr, belaufen sich die Kosten auf mehr als 1100€.
Erhalten nun mehr Therapeut:innen Kassensitze, steigt die Anzahl der Plätze für Patient:innen, die die gesetzlichen Krankenversicherungen übernehmen. Mehr Menschen können ohne eine weitere Belastung Therapie in Anspruch nehmen, Folgen psychischer Erkrankungen verringern sich.